80er Jahre Berlin – Ein Setting könnte für einen Spy-Film kaum ergiebiger sein. Es herrscht kalter Krieg und jeder will ein Stück vom Kuchen: Briten, Russen, Amerikaner, Franzosen und die Stasi sind umtriebig. Mittendrin hat man Charlize Theron einen Debbie-Harry-Haarschnitt verpasst (Blondie – Atomic – get it?), sie zu richtig hartem Kampftraining geschickt und eine Playlist ausgegraben, die das Herz jedes 80er-Kindes höher schlagen lässt.
Gleich zwei Filme nacheinander haben es geschafft, mich in den ersten 15 Sekunden abzuholen. Baby Driver war der Erste, Atomic Blonde ist mit seinem New Retro Wave Look und einer Eröffnungsszene zu „Blue Monday 88“ von New Order der Zweite. Die Farben sind entweder blau, grün und grau, oder sie gehen in pinkes, rotes und türkises Neon-Licht über. Das Berlin aus Atomic Blonde wirkt, als wäre es Berlin auf der anderen Seite des Spiegels. Irgendwie ähnlich, nur eben ein bisschen künstlicher: ein überstilisierter 80er-Berlin-Theme-Park.
Lorraine ist britische Agentin, die – wie scheinbar alle in dieser Welt – einer Liste mit Daten über sämtliche Agenten in diesem Krieg hinterherjagt. In Berlin trifft sie auf Percival, den die Stadt komplett in ihren Bann gezogen hat und der sich in Party und Chaos verloren zu haben scheint. Was dann beginnt, ist eine Charakterstudie einer Vielzahl von Marionetten in einem großen politischen Geheimdienste-Theater.
Der Film ist sicher nicht für jeden, denn ihm fehlt es an Geschichte. Er ist nicht wirklich spannend, denn er kümmert sich nicht um die Handlung an sich, sondern interessiert sich dafür, wie die Akteure mit den jeweiligen Situationen umgehen. Dadurch zieht sich das Ganze auch mal in die Länge. Es wird sich Zeit genommen und immer wieder gefragt, wie sich die Personen eigentlich so fühlen un das tut dem Film auch mal ganz gut zwischendurch. Das ist man gar nicht mehr so gewohnt, vor allem nicht bei der Fülle an schnell geschnittenen Action-Filmen.
Da kommen wir gleich zum nächsten Pluspunkt: Ich habe mich beim verwundert Auf-die-Uhr-schauen ertappt, denn die sehr gut choreografierten Action-Szenen wurden in mitunter minutenlange One-Shots verpackt, bei denen man für alle beteiligten hofft, dass da ganz viel getrickst wurde. Dass eine Charlize Theron was drauf hat, daran zweifelt hoffentlich niemand mehr, aber nach diesem Film wollt ihr keinen Streit mit ihr! Gerade beim Trailer vermutet man natürlich schnell, dass man ein John-Wick-Reboot in weiblich bekommt. Den Zahn kann ich euch gleich ziehen, denn obwohl der Film technisch sicher an die Filme erinnert, steht er doch für sich allein.
Meine Befürchtung war es vielmehr, dass zwar eine Frau zur toughen Hauptperson wird, aber eigentlich nur ein Mann in Form eines Sexobjekts ist – weil mal wieder keine Frau außer Charlize Theron involviert war, wenn man einen Film über eine Frau macht. Aber halt! Die Schauspielerin, die schon bei Mad Max: Fury Road bewiesen hat, dass es halt auch anders geht, scheint einen guten Einfluss zu haben. Da musste ich überrascht feststellen, dass die Kamera hier meistens sehr brav in die Augen schaut, es sei denn sie soll zeigen, mit welchen Waffen aktuell gespielt wird (das gilt aber für alle Figuren). Und ich sage das, während es eine Lesben-Sex-Szene mit Sofia Boutella gibt, die deutlich weniger spektakulär ist, als der Trailer uns weismachen will. James McAvoy war offensichtlich einmal häufiger im Fitness-Training und das ist ebenso nüchtern präsentiert, wie die Nacktszenen von Charlize Theron. Well done!
James McAvoy spielt übrigens großartig den heruntergekommen, aber irgendwie liebenswerten, Psycho. Jeden Sinneswandel, jede Emotion, jeden Satz nimmt man ihm ab. Toby Jones und John Goodman haben lediglich den Paycheck abgeholt, sind aber auch so gut besetzt, dass sie sich nicht sonderlich anstrengen müssen. Sofia Boutella ist sehr süß und unschuldig, das kennt man bisher nicht unbedingt aus ihrem Repertoire (Star Trek Beyond, Die Mumie). Was besonders lobend hervorgehoben werden sollte, ist, dass hier jeder ganz brav seine Deutschvokabeln gelernt hat. Der Film besteht aus vielen Szenen, in denen Deutsch oder Russisch gesprochen wird und das klingt eigentlich bei jedem sehr vorbildlich. Da das leider nicht selbstverständlich ist, muss ich das mal loben. Der Stasi-Mitarbeiter hat sich dabei noch am schwersten getan – haha, welch Ironie!
Ganz großes Bussi an die Ausstattung, die hier eine Schönheit in diese Version der 80er bekommen hat, die sich jedem Realismus entzieht, aber sowohl Sehnsucht als auch Nostalgie hervorruft. Schafft das mal, jemanden in einem Strickpullunder gut aussehen zu lassen, egal wer es ist. Eben! Mit dem oben erwähnten Blondie-Haircut kann man in der Regel nix falsch machen, und ich kann mir kaum vorstellen, dass er keine Verbeugung vor der fast namensgebenden Ikone Debbie Harry sein soll. Generell ist das Styling aller Akteure Spot-On, ob comichaft-überzogen oder einfach fashionable. Ich fragte sogar auf Twitter nach dem Kopfhörermodell, dass sie im Film verwenden, so hypnotisiert war ich vom Look. (Falls es wen interessiert: Es sind AKG K140er).
Atomic Blonde macht vor allem mal sehr viel Spaß! Man ist versucht, „Major Tom“ (und auf jeden Fall „Blue Monday“) heimlich (wieder) auf die Playlist zu schmuggeln und singt (laut) bei „I ran“ mit, ohne sich dabei zu schämen. Also ich mache das so, weil das ist ein super Song! Wenn Du mit 80er Neon Shizzle, Charlize Therons zerschundenem Gesicht und „Under Pressure“ nichts anfangen kannst, dann retten dich die 10 Sekunden Sexy-Time auch nicht über zwei Stunden Laufzeit – ansonsten: viel Spaß!
Atomic Blonde
R: David Leitch
B: Kurt Johnstad, Antony Johnston (Graphic Novel)
C: Charlize Theron, James McAvoy, Sofia Boutella, Toby Johnes, John Goodman
Start: 27.07.17; 115 Min.