Daredevil – Wie wir mit Blinden sehen lernen

Charlie Cox stars in the Netflix Original Series “Marvel’s Daredevil.”  Photo: Courtesy of Netflix © 2014 Netflix, Inc. All Rights Reserved.
Charlie Cox stars in the Netflix Original Series “Marvel’s Daredevil.”
Photo: Courtesy of Netflix
© 2014 Netflix, Inc. All Rights Reserved.

Daredevil hat es notorisch schwer. Nicht nur wurde er von Ben Affleck gespielt (2003 in einem Film mit Jennifer Garner, zu einer Zeit also, wo noch sie und nicht Rachel MacAdams gecasted wurde); nicht nur ist Daredevil religiös (römisch-katholisch), nein, er ist auch noch blind. Ein blinder Superheld? Aber genau dafür lieben wir doch die Superhelden-Universen: Alles ist erlaubt und alles ist möglich. Aus einem männlichen Thor wird ein weiblicher Thor und aus einem blinden, kleinen Jungen ein blinder Bruce Lee mit einer Prise Jurisprudenz.

Und trotzdem. Daredevil hat es schwer. Wir, die Zuschauer, können ihn sehen, aber er, er sieht nichts von alledem, auch wenn er wie eine Fledermaus mittels Schallwellen hört/sieht (hier die seltsame Verbindung über Ben Affleck zum neuen Batman, irgendwie hängt ja alles mit allem zusammen). Es ist ungewohnt und etwas schwierig, sich vorzustellen, wie jemand, der nicht sehen kann, unbesiegbar das Böse bekämpft.

Aber die neue Serie auf Netflix von Drew Goddard gelingt es unnachahmlich, gerade diesen Zweifel von der ersten Minute an in Luft aufzulösen. Und wie? Indem eine dunkle, geheimnisvolle Atmosphäre über jeder Einstellung, über jedem Gespräch, dem kleinsten Dialog liegt. Die Bilder sind dunkel und trotzdem intensiv, und gerade dieser Dreh hebt die Blindheit von Daredevil als Montageprinzip hervor – das Sehen selbst wird zur Aktion, zum Protagonisten, auch für den Zuschauer stellt sich das Sehen nicht mehr als Selbstverständlichkeit dar. Dunkle Ecken, aus denen Bösewichte hervorspringen, dunkle Seitenstraßen, die alles verbergen, die mich als Zuschauer hilflos zurücklassen, so dass ich mich auf den blinden, alles aber wahrnehmenden Daredevil verlassen muss und mich dankbar auf den Schultern meines Superhelden ausruhe. Es ist einfach ein Musterbeispiel für eine gelungene ästhetische Bewältigung des Identifikationsproblems bei Daredevil, das eben den ersten Film scheitern ließ (wiewohl er auch viele gute Momente hatte – selbst noch das Spin-off Elektra).

Und hier beginnt erst das Wundervolle dieser Serie, denn sie ist in jeder Hinsicht ein Unikat, eine unfassbar überzeugende und eigenständige Darstellung der typischen Problematik zwischen Tages-Identität (Matt Murdoch) und Nacht-Identität (Daredevil), zwischen Freundschaft, Liebe, Verantwortung und Familienzugehörigkeit. Selten hat sich eine Serie so sehr gewagt, der Männlichkeit als Sozialisierungsproblem nachzugehen, ja, nicht nur zu illustrieren, sondern sogar in ihrer impliziten und expliziten Gewalt auseinander zunehmen. Sei es die Freundschaft, das Vertrauen der beiden Anwaltsfreunde (Matt und „Foggy“ Nelson), oder sei es das seltsam verschwobelte Vater-Sohn-Drama, das in Smallville groteske Züge des Klischees bereithielt (wie auch die Freundschaft zwischen Lex Luthor und Clark Kent): In der Serie Daredevil werden zwischenmenschliche Konflikte nicht glattgebügelt und auch nicht geschönt – und so komme ich zum Juwel der Serie, nämlich der Darstellung von Wilson Frisk durch Vincent D’Onofrio.

VINCENT D'ONOFRIO as WILSON FISK in the Netflix Original Series “Marvel’s Daredevil”  Photo: Barry Wetcher © 2014 Netflix, Inc. All rights reserved.
VINCENT D’ONOFRIO as WILSON FISK in the Netflix Original Series “Marvel’s Daredevil”
Photo: Barry Wetcher
© 2014 Netflix, Inc. All rights reserved.

Alles, was man von typischen machtbesessenen Bösewichtern kennt, wird hier aufgenommen aber in einen völlig neuen Kontext gestellt. Obgleich ein Garant des Verbrechens, ein unheimlicher Zwangscharakter, tobt ein permanenter Zwiespalt in Wilson Frisk, eine dramatische Dialektik zwischen Gut und Böse: Eben Gutes zu wollen, aber dafür Böses in Kauf zu nehmen. Alles an diesem Charakter reißt einen mit, seine Kindheit, seine Liebesbeziehung, seine Art mit Geschäftspartnern umzugehen, das Klischee, dass harte Männer gerne kochen und in „Glas-Leder-Stahl“ Wohnungen leben. Ok, aber er weiß auch Tee zu servieren. Nein, es ist viel mehr dahinter und man spürt es in der gepressten Vokalität, im Versuch, permanent zu kontrollieren. Wilson Frisk will das Schlimmste verhindern, will es nicht zum Letzten kommen lassen, wie es in seinem Leben schon einmal passiert ist. Und ohne zu spoilern (denn das kommt ja nicht in Frage) handelt es sich hier um einer der krassesten Szenen, die ich je im Fernsehen, in einer Serie gesehen habe, und so öffnet Daredevil Tür und Tor, um über häusliche Gewalt, Männlichkeit, Behinderung, kritischen Journalismus nachzudenken.

Daredevil ist ein Kleinod und unbedingt, meines Erachtens, sehenswert und toll. Es hat mit die besten Actionszenen in einer Serie (vergleichbar noch mit Arrow), eine Martial-Arts-Dramaturgie, die gutem Tanztheater in nichts nachsteht, und spielt gnadenlos die Stärke der Comics und Superheldenuniversen aus, indem Klischees so künstlerisch wertvoll ausgearbeitet werden, dass selbst die stärksten von ihnen noch in einem neuen und bedenkenswerten Licht erscheinen. Daredevil begibt sich auf dünnes Eis, nämlich dass der unreflektierten, sich ihrer selbst nicht bewussten und daher scheiternden Männlichkeit – und dies ganz ohne Pathologisierung und vorgeschobene Normalität. Das ist selten (wie auch ein Rating von 9.1/10 auf IMDB).

Marvel’s Daredevil
Produzenten: Drew Goddard, Steven S. DeKnight, Jeph Loeb
Bei: Netflix
Cast: Charlie Cox, Rosario Dawson, Vincent D’Onofrio, Elden Henson, Deborah Ann Wolf

 

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