In den Randnotizenwelten von Das Schiff des Theseus

Wie beginnt man über ein Buch zu schreiben, das weder einen Anfang noch ein Ende hat? Man springt einfach mitten hinein. Es gibt ohnehin keine andere Wahl. Das Schiff des Theseus ist ein sehr erstaunliches Machwerk, ein Traum für den ambitionierten Leser und ein wahres Geschenk für die Leseratten.

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Wie beginnt man über ein Buch zu schreiben, das weder einen Anfang noch ein Ende hat? Man springt einfach mitten hinein. Es gibt ohnehin keine andere Wahl. Das Schiff des Theseus ist ein sehr erstaunliches Machwerk, ein Traum für den ambitionierten Leser und ein wahres Geschenk für die Leseratten.

Alleine es auszupacken, das Siegel zu brechen, die ersten knisternden Seiten voller Spannung und Neugier voneinander zu lösen, versetzt einen in ein imaginäres, aber nicht weniger genüssliches Schlaraffenland. Das Schiff des Theseus ist eine Ode an die Buchliebhaber dieser Welt, an die Lust am Text, an Fußnoten, an verwickelten Gedanken, spontanen Regungen, Entgleisungen und Überraschungen, ein Buch, wie aus der „Unendlichen Geschichte“ entsprungen, oder aus dem wirren Kopf eines Mallarmé, der das Buch der Bücher schreiben wollte.

Aber was hat es mit dem Text auf sich? Im Gegensatz zu vielen postmodernen Texten ist Das Schiff des Theseus sehr gut lesbar und zugänglich. Der Haupttext ist eine Art klassische kafkaeske Parabel über eine politische Widerstandsbewegung, eine Art Liebes-und-Reise-Roman in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, angesiedelt hauptsächlich zwischen den Weltkriegen, mit Ausflügen in den Spanischen Bürgerkrieg und über die Anti-Kolonial-Bewegungen rund um die Welt. Stilistisch nahe an Joseph Conrad oder Jean-Marie Gustave Le Clezio zieht es einen durch die schnelle Sprache in den Bann, ganz wie ein Krimi. Daneben, dazwischen, rundherum handelt es sich um das Zwiegespräch zweier kommentierender Leser, eine Studentin namens Jen und ein Doktorand namens Eric, die handschriftlich das Buch vollgekritzelt haben und versuchen, einem möglicherweise zwischen den Zeilen verborgenen Geheimnis auf die Schliche zu kommen.

Schif des Theseus

Es fehlt diesem Buch also nichts. Es gibt Humor, Tragik, Tiefsinnigkeiten gespickt mit entspannten, flachen, aber doch unterhaltsamen Kalauern und Plaudereien. Es liest sich schnell und unbeschwert und regt doch zu einigen Gedanken an, bspw. über Waffenschiebereien, über die Schattenseiten des Akademikerdaseins und auch darüber, wie Kinder aufwachsen, was Jugendliche begehren, was Erwachsene zeitlebens zu unterdrücken versuchen. Am besten jedoch hat mir gefallen, wie renitent rücksichtslos Eric und Jen Wörter aus ihren Kontext reißen und zum Anlass nehmen, über sich oder den anderen etwas Persönliches zu schreiben. Der Text existiert tatsächlich nur als Fläche, über die zwei Menschen sich selbst und den anderen spiegeln, sich kennenzulernen. Von respektvoller Distanz, von einer Verbeugung dem Autoren gegenüber keine Spur: Ganz im Gegenteil, die Liebe zum Autor zeigt sich in der Praxiswerdung der Sprache als Medium für Eric und Jen, die Liebe zum Text zeigt sich im Umkreisen, Umkringeln, im Zeichnen, Beschmieren, in der Umgestaltung des Buches – wie ein kahlgeliebter Teddybär ist das Buch Zeuge einer Leselust und Lebensbejahung. Das Buch als Gebrauchsgegenstand.

Schwierig an Das Schiff des Theseus ist lediglich die Wahl, wie man es liest: Ob man zuerst den Haupttext liest und dann die Kommentare, oder zuerst die Kommentare, dann den Haupttext, oder beides parallel. Es ist eine verwirrende Wahl und am Ende scheint es nur darauf anzukommen, dass man es beim ersten Mal irgendwie liest, um es dann querbeet aufzuschlagen und sich von einzelnen Kommentaren und Passagen inspirieren zu lassen.

Irrungen und Wirrungen

Schwierig ist es auch, die Übersicht zu behalten – die verzwickte Spionegeschichte ist meines Erachtens zu verzwickt. Ich habe mich an vielen Stellen tatsächlich nicht in der Lage gesehen, den inneren Verwicklungen einer Agentenbande Interesse entgegenzubringen. Hierfür war die Hauptstory zu verwirrend – und das trifft dann auch auf die Suche nach dem wahren Autor zu, auf die Suche nach Straka selbst. Hier sind J.J. Abrams und Doug Dorst übers Ziel hinausgeschossen.

Aber vielleicht wollten sie auch unverständlich bleiben, um eine wiederholte Lektüre zu provozieren, eine Art Flashmop der Literaturgeschichte. Störend war darüberhinaus die vereinzelte Verwendung von sehr technischen und fachbezogenen Begriffen, die aus der Textfläche, aus der einfachen Sprache wie Raketen herausschossen, bspw. „hypnagogen“ oder „amniotischen leptorrhine“ Auch wenn diese Wörter schön sind, so passen sie nicht in den ansonsten sehr einfach gehaltenen Schreibstil, der bescheiden und zurückhaltend bleibt.

Liebeserklärung!

Ich empfehle dieses Buch dennoch allen Leseratten und Buchvernarrten uneingeschränkt. Das Schiff des Theseus ist eine Liebeserklärung an das analoge Buch, an das Schreiben, Kritzeln, Doodeln, an die Lust mit dem Buch über das Buch hinaus das Leben zu verändern und zu verschönern. Die Melange aus Bloggen, Exzerpieren, aus Recherche, Emails, SMS-Stil, aus Briefen, Postkarten-Sprache und schnatternder Erzähllust ist in jedem Fall eine Bereicherung auch über die Randnotizenwelten hinaus. Es ist einfach schön, wie sich Eric und Jen ganz und gar nicht an die von der Bibliothek in das Buch gedruckten Vorschrift gehalten haben: „Dieses Buch ist pfleglich zu behandeln.“ Sie haben es mit Liebe vollgekrakelt.

Das Schiff des Theseus
J. J. Abrams / D. Dorst.
Aus dem amerikanischen Englisch von Tobias Schnettler und Bert Schröder
Kiepenheuer&Witsch Verlag
544 Seiten. ISBN: 978-3-462-04726-4.
Erschienen am: 08.10.2015.

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