Vielmehr als die Spielfilme haben mich in diesem Jahr die Dokumentationen gepackt – die Qualität war gemischt, aber einige Perlen waren dabei.
Austerlitz
Dieser Film war die Ausgeburt der Arroganz. Mit einer durchaus interessanten Prämisse, nämlich den Auswirkungen von Gedenk-Tourismus, schafft es Regisseur Sergei Losnitza nicht, Fragen zu beantworten, abzuwägen oder überhaupt in irgendeiner Form zu differenzieren: Vor seiner ruhigen Kamera stellt er alle Gäste der KZ-Gedenkstätten blos, indem er aus der Ferne, schön mit Teleobjektiv, die Besucher als abartige Trottel darstellt. ‚Da schaut hin, wie sie sitzen und essen und Fotos machen, das widerliche Pack‘. Natürlich verhalten sich einige unangemessen, weil manche Menschen offensichtlich kein Verständnis für respektvollen Umgang mit der Geschichte haben. Aber anstatt das Thema zu diskutieren, stellt er sich hin und sagt: Was soll das überhaupt, dass man da rein darf – um das zu erleben, sollte man ganz allein durch die Gedenkstätte gehen. Aha, ein logistisches Kinderspiel, Herr Losnitza. Also soll lieber niemand eine Gedenkstätte besuchen, weil 3 Leute unangemessene Fotos machen? Lieber alles verstecken und vergessen? Dann kann aber niemand mehr mit dem Finger auf den Abschaum in kurzen Hosen und bunten Shirts zeigen, der uns hier präsentiert wird. Ich empfand diesen Film als ein arrogantes, langweiliges, faules Stück Voyorismus, der die Zielgruppe der ewig Besseren perfekt bedient. Ich für meinen Teil habe vor allem Menschen gesehen, die sich für Geschichte interessieren und weniger, die sich daneben benehmen.
American Anarchist
Die Idee, sich mit dem Autor des berüchtigten „Anarchist Cookbook“ zu treffen und mal nachzufragen, wie sich das so anfühlt, ist eigentlich eine gute. Die Ausführung durch Charlie Siskel ist jedoch eher ein bisschen unangenehm anzuschauen. Der Autor William Powell war zur Zeit der Veröffentlichung ein 19-jähriger Hitzkopf, gezeichnet von einer anstregenden Kindheit und Jugend als Außenseiter. Er will seiner Wut auf das System mit dem Zugänglichmachen von Wissen Luft machen und wird jetzt an den Pranger gestellt. Der heute zurückgezogen in Frankreich lebende, alte Mann, der sich ein Leben lang als engagierter Lehrer weltweit für Kinder mit Lernschwäche einsetzt, wird permanent mit der Frage konfrontiert, ob er sich nicht auch ein bisschen schuldig fühlt. Schuldig an allen Gewalttaten, die seit sein Buch veröffentlicht wurde, weltweit passiert sind – weil die Täter eine Ausgabe des Buches besaßen. Das ist in etwa so, als würde man die Gamesindustrie fragen, ob sie sich nicht verantwortlich fühlt, dass Massenschießereien an Schulen stattfinden… oh, halt, da war was ;). So wird dieser Mensch vor der Kamera demontiert, bis er völlig in Zweifeln versinkt und man fast schon beobachten kann, wie während der Dreharbeiten die Ehe mit seiner Frau in eine Krise gerät, obwohl sie gemeinsam viel durchgestanden haben. Da fragt man sich, wie nötig es ist, dem Mann, der inzwischen verstorben ist, seine jugendliche Torheit, die er aufgrund von Rechtsproblemen nicht rückgängig machen kann, noch mal so in die Fresse zu drücken. Ich finde gar nicht, zumal man wenig über die Hintergründe des Buches erfährt – hätte man auch einfach lassen können, er tat mir Leid.
Peter Handke: Bin im Wald, kann sein, dass ich mich verspäte
Peter Handke ist sicherlich kein einfacher Zeitgenosse: Ein wenig verschroben, in sich gekehrt, eine harte Nuss für Interviewer. Umso beeindruckender wie die fantastische Corinna Belz mit ihrer sehr intimen Dokumentation über den österreichischen Weltklasseautor ein weiteres Mal ihr können unter Beweis stellt. Wer Gerhard Richter Painting gesehen hat, versteht, wovon ich rede. An die kraftvollen Bilder, die den Künstler bei der Arbeit zeigen, kann sie hier in ganz anderer Weise anknüpfen: Indem sie Handke in die Natur gehen lässt, sticken lässt, ihn allein und mit seiner Familie zeigt. Obwohl wir nie sehen, wie er tatsächlich arbeitet, können wir doch Rückschlüsse ziehen, wenn wir sehen, wie akribisch er die Pilze schneidet, die er gesammelt hat und wie er philosophierend durch die Natur stapft. Dabei kommt Belz ihm und seiner Familie stehts sehr nah, greift Aspekte seines Lebens auf, schaut gemeinsam mit ihm zurück. Clever und eindrucksvoll lässt sie den Künstler selbst aus seinen Arbeiten vorlesen, während die Worte sich wirksam auf der Leinwand aufbauen. Ein beeindruckender, kurzweiliger Film, der keinerlei Vollständigkeitsanspruch hegt, aber einen intensiven Blick auf eine facettenreiche Persönlichkeit zulässt.
Listen to me Marlon
Problemlos ist diese postmortem (Auto-)Biografie von Marlon Brando eines der, wenn nicht das Highlight der Viennale für mich. Es ist ein Gesamtkunstwerk, bestehend aus einem cleveren Arrangement, von ausschließlich originalen Tonaufnahmen, die meisten aus einer schier endlosen Sammlung von Tapes stammen, die Marlon Brando über die Jahre selbst aufgenommen hat. Begonnen und immer wieder unterbrochen wird der Film von einer digitalen Rekonstruktion von Brandos Kopf aus dem Material, welches für Superman II angelegt wurde. Dabei erhält man einen, natürlich stark autobiografischen, aber durchaus clever kuratierten Einblick in Brandos Leben. Einfache Kost ist es sicherlich nicht, aber wir haben eben auch keinen 0815-Standard Shizzle vorliegen. Ich will gar nicht wissen, wie lange es gedauert hat, die ganzen Tonbänder durchzuhören, zu bebildern und dann auch noch den Schauspieler selbst digital zu reanimieren – starke Leistung.
De Palma
Einen ganz anderen Zugang zur Autobiografie hat „De Palma“ der den namensgebenden Filmemacher selbst und ausschließlich das Wort überlässt. Und er erzählt und erzählt, was für ein großartiger Mensch er ist, dass es eigentlich ihm zu verdanken ist, dass Taxi Driver existiert, dass Filmemacher heutzutage eigentlich nicht mehr an die Klasse von ihm und Co (Lucas, Scorcese, Spielberg…) rankommen, dass er Robert de Niro entdeckt hat. Man möchte brechen, während man ihm dabei zuschaut, wie er sich auf sich selbst einen runter holt. Manchmal ist dann tatsächlich eine interessante oder zumindest relevante Anekdote versteckt. Aber das ahnt man schon, wenn Brian de Palma vor eine Kamera gesetzt wird und machen darf, was er will. Dann kommt sowas bei raus. „Ich bin der einzige Filmemacher, der in Hitchcocks Fußstapfen tritt.“ – ahja, gut, dass wir das geklärt haben, Genius. Nicht falsch verstehen, ich finde de Palmas Arbeiten sind Meilensteine der Filmgeschichte und sein Scarface Remake ist für mich eine Offenbahrung. Was ich nicht leiden kann, ist Überheblichkeit.
Gimme Danger
Musikdokus sind eigentlich fast immer gleich: Musiker, die inzwischen heißen Ingwertee mit Honig zwischen den Shows trinken, anstatt sich einen Schuss zu setzen, erzählen uns, wie wild das früher nicht alles war, als sie einen Gig nicht machen konnten, weil der Heinzi eine ganze Flasche Vodka getrunken und dann eine Trommel gegessen hat. Bla bla, more of the same. Jim Jarmusch wäre aber nicht eine so große Nummer, wenn er aus der wilden Herde um Iggy Pops The Stooges keinen unterhaltsamen Zweistünder rauspressen könnte. Ich frage mich, wie eine Band, die so ein absoluter Sauhaufen war und eigentlich gar nicht so lange existierte, so einflussreichen, brillanten Rock’n’Roll produzieren konnte – aber irgendwie war da System im Chaos und Jarmusch kitzelt dieses System zumindest ansatzweise heraus. Hauptsächlich erzählt Iggy, den kennt auch jeder, muss man ausnutzen – außerdem ist er einfach ein guter Typ, ich finde ihn faszinierend. Eine sehr schöne Idee war es, kleine ironische Comic-Clips einzuschieben, die das doch strikte Standard-Doku Konstrukt ein wenig aufgebrochen haben.
Le Complexe de Frankenstein
Dieser Film ist interessant. Es kommen interessante Menschen vor. Sie erzählen davon, wie Special und Visual Effects sich über die Jahre entwickelt haben. Die Doku geht zwei (in Zahlen: 2) Stunden. ALLE interessanten Menschen sind Männer. Nach 1,5 Stunden darf eine Frau einen Satz sagen. Er ist nicht wichtig. Fickt euch.