Großstadtgeflüster – oder, warum jeder Chungking Express gesehen haben sollte
Zwei Männer, zwei Frauen, die Magie von 24 Stunden und eine stilprägende Kameratechnik: Was der Regisseur Wong Kar-Wai 1994 seinem Publikum mit Chungking Express vorsetzte, war Filmzauberei pur. Klar, dass sich Arthouse-Enthusiasten auf sein Meisterwerk stürzten, gerade – oder vielleicht obwohl – Quentin Tarantino den Film ausdrücklich jedem empfahl. Wong Kar-Wai verhalf sein Film im Westen zum Durchbruch, auch, wenn er nur wenig mit dem Genre zu tun hatte, das in den 80ern und 90ern das Hong-Kong-Kino prägte.
Zwei Polizisten essen jeden Tag im Restaurant Chungking Express. Der eine, Polizist 223, hat bald Geburtstag und hofft immer noch darauf, dass seine Freundin ihn nur als Aprilscherz verlassen hat. Dann begegnet ihm eine mysteriöse Frau in Gelb, die sein Leben verändert. Der andere, Polizist 663, lässt sein Leben an sich vorbeitreiben, weil auch ihn seine Freundin verlassen hat. Bis eine junge Frau seinen Alltag gehörig auf den Kopf stellt.
Zeitloses, hektisches Hong Kong
Polizisten, Hong Kong, eine Empfehlung von Quentin Tarantino: Klar, dass bei der Veröffentlichung des Film im Westen alle Fans des Hong Konger Gangster Kinos sofort Schlange standen. Doch bis auf die mysteriöse Frau in Gelb hat Chungking Express nicht viel mit den Action-Dramen von John Woo und Konsorten gemeinsam. Stattdessen präsentiert Wong Kar-Wai ein zeitloses, hektisches Hong Kong, in dem das Leben und die Liebe oft seltsame Wege gehen. Viel passiert weder bei Polizist 223 noch bei seinem Kollegen 663. Sie wollen an die Liebe glauben, hängen einer Frau hinterher und fragen sich, wohin es mit ihnen noch gehen soll. Dass die Geschichten der beiden einen so hypnotischen Sog auf den Zuschauer ausüben, liegt nicht zuletzt an den grandiosen Schauspielern. Chungking Express versammelt das Who is Who der jungen Wilden aus dem Hong Kong Kino der 90er. Tony Leung, Fae Wong, Brigitte Lin und Takeshi Kaneshiro sind urban, cool und schaffen es trotzdem, mit einem Wort oder einer Geste die aufwühlenden Emotionen, die unter der Großstadtfassade schlummern, auszudrücken. Mehr noch als die Schauspieler und die absolut zitierfähigen Dialoge (wer nach diesem Film Chefsalat noch mit denselben Augen sieht, hat ihn nicht verstanden) ist aber die Kamera für die Magie von Chungking Express verantwortlich.
Hinter der Kamera stand bei Chungking Express Christopher Doyle. Sein fahriger, improvisierter Stil prägte das Hong Kong Kino und ist auch einer der Gründe, warum Quentin Tarantino den Film so verehrt. Doyles frenetische Kamera schafft es einerseits ein perfektes Bild der Großstadt-Hektik abzuliefern, andererseits die äußerst romantische und verträumte Handlung einzufangen. Wo sonst sieht man, wie ein ganzer Tag vergeht, während ein einsamer Mann eine Münze in einen Musikautomaten wirft?
Die kleine Alternative
Für Wong Kar-Wai war Chungking Express zunächst nur eine kleine Alternative zu seinem Schwertmeister-Epos Ashes of Time, dessen Dreharbeiten ihn sehr ermüdet hatten. Er wollte nichts anderes als einen kleinen, schnellen Film drehen, quasi das Gegenstück zu seinem großen Epos.
Angesprochen auf die Möglichkeit eines Remakes von Chungking Express antwortete Christopher Doyle in einem Interview nur mit „Wozu?“. Der Film stelle das dar, was er und Wong Kar-Wai in den 90ern gefühlt haben. „Warum sollten wir da wieder hin wollen?“ Zum Glück. So ist Chungking Express ein stilprägender Traum, eine Reise in eine Stadt, in der Hektik, Drama und Liebe aufeinanderprallen und Gedanken und Gefühle groß sein dürfen. Wo die Kamera einen umhaut und der Soundtrack so passend ist, dass nur ein einziger Ton Bilder von Chefsalat, Frauen in Gelb, Flugzeugen und Männern, die im Regen laufen, hervorrufen wird. Großstadtgeflüster – selten so schön in Szene gesetzt wie hier.
Chungking Express ist bei Studio Canal auf DVD erschienen.