++KALEIDOSKOP #1 „nicht einmal eine einzige Blume“

weiße wände: zeichen von ländlicher idylle oder durch eine militärdiktatur aufrecht erhaltener ordnung … gekritzel: zeichen, auch mal hier gewesen zu sein, obszöne provokation … reclaiming the streets through art: leer ausgehen im kunstbetrieb, subversiver akt oder verschönerung urbanen raums?
Kaleidoskop #1 „nicht einmal eine einzige Blume“
Kaleidoskop #1 „nicht einmal eine einzige Blume“

weiße wände: zeichen von ländlicher idylle oder durch eine militärdiktatur aufrecht erhaltener ordnung … gekritzel: zeichen, auch mal hier gewesen zu sein, obszöne provokation … reclaiming the streets through art: leer ausgehen im kunstbetrieb, subversiver akt oder verschönerung urbanen raums?

wiener neustadt – wien, 1999

der intercity wird in einer knappen halben stunde in der großstadt ankommen (der begriff metropole wäre bereits übertrieben). ich sitze im großraumwaggon oder in einem nichtraucherabteil zweiter klasse. blick aus dem fenster: je weiter der zug die provinz hinter sich lässt, desto bunter werden die schallschutzmauern und fabriksfassaden entlang der bahnlinie … in der erinnerung überlagern sich zahlreiche fahrten entlang der südbahnstrecke zu einer einzigen: vielleicht war auch der zug besprüht, die fenster jedenfalls waren frei. faszination im vorbeifahren – rooftops und die überlegung, ob mit leiter oder seil … einige höher gelegene arbeiten von damals gibt es immer noch. genau darin steckt der reiz von rooftops: sie sind schwer zu entfernen …

nicht immer (und je weiter sich derselbe zug wieder zurückbewegte richtung provinz, desto weniger wird dies der fall gewesen sein) waren es künstlerisch anspruchsvolle wandgestaltungen, die das auge erblickte: street art, die „intellektuelle Stiefschwester von Graffiti“,[1]  verbreitete sich in österreich erst nach der jahrtausendwende. das graffito selbst steckte noch in den kinderschuhen. am häufigsten war wohl sein schmuddeliger halbbruder anzutreffen: das gekritzel. selten noch in form von sinnsprüchen oder manifestationen von liebeskummer und weltschmerz, die ihren weg von der mauer in die tagebücher häufig hin- und herpendelnder jugendlicher fanden. häufiger schon als provokation durch sexuelle symbolik oder eindeutig sexistische markierungen. oft nur der eigene (spitz)name – das „Bekritzeln von Bäumen, Bänken und Mauern mit dem ebenso euphorischen wie ohnmächtigen Nachweis der eigenen Existenz.“[2] horror vacui als erklärung für rooftops oder die meist illegale verwendung von eddings und schlüsseln im öffentlichen raum? vielleicht.

new york, 1971

der jugendliche, der unter dem pseudonym taki 183 seine tags in u-bahn-stationen, auf LKWs und auf mauern anbringt, fragt in einem interview mit der New York Times: „Why do they go after the little guy? Why not the campaign organizations that put stickers all over the subways at election time?“[3] er tagge für sich selbst, nicht um prädident der vereinigten staaten zu werden. wie viele andere jugendliche, die es ihm nachtun. ende der 60er oder anfang der 70er jahre wäre sowieso undenkbar gewesen, dass ein latino, eine schwarze oder jemand mit jedwelchen nicht-US-amerikanischen wurzeln ins weiße haus einzieht. ein_e präsident_in aus der working class (und vielleicht obendrein mit migrationshintergrund) würde heute noch als sensation gelten. den meisten writern blieb auch eine realistischere berufliche laufbahn versperrt: zwar landeten einige ihrer werke in galerien, doch ihre soziale herkunft und die tatsache, dass sie keine kunst-uni von innen gesehen hatten, wirkten als ausschlusskriterium. die empfehlung des kritikers rene ricard lautete: „These guys should get themselves design jobs before they get ripped off.“[4]

einer, dem es (wenn auch nicht einmal für zehn jahre) gelang, von seiner kunst zu leben, ist der afroamerikaner jean michel basquiat. er legte sein pseudonym SAMO ab und verlagerte seine künstlerische tätigkeit richtung malerei. das image als graffiti-künstler blieb jedoch an ihm kleben. sein freund fred brathwaite, der selbst aus der sprayer-szene kam, führte dies auf den unterschied in der rezeption von weißen und schwarzen künstler_innen zurück: „Graffiti had become another word for nigger.”[5] sein frühes werk Cadillac Moon, dessen einfache formen und kräftige farben basquiats respekt für kinderzeichnungen verdeutlichen, ist dreifach signiert: SAMO©, AARON und JEAN MICHEL BASQUIAT. „AARON verweist auf einen der Helden Basquiats, den schwarzen Baseballspieler Hank Aaron (geb. 1934) […]“,[6] der dem nationalteam zum sieg verhalf, aber mit seinen kollegen weder in einem restaurant essen noch in einem hotel schlafen durfte. basquiat verstarb mit 27 jahren an einer überdosis verschiedener drogen. was bleibt, sind die bilder: in privatbesitz oder öffentlichen galerien, katalogen, webportalen. es lohnt sich, sie in ruhe zu betrachten. an den meisten tags und pieces, die an bahnlinien liegen, fährt man/frau zu schnell vorbei, um ihnen aufmerksamkeit schenken zu können: die sehnsucht, dass etwas (geschrieben) bleibt, verbindet die flugfeldsiedlung mit harlem und wien meidling mit der bronx.

baku – tbilisi, 2011

der nachtzug setzt sich langsam in bewegung, das abteil riecht nach rauch und die fünf (oder waren es vier?) reisenden überlegen, ob sie eine kanne tee bestellen sollen. wenige wochen zuvor waren die frühlingsproteste niedergeschlagen worden, in der stadt, die nun hinter ihnen liegt. ich hatte einige monate dort zugebracht und war mit dem gefühl, dass etwas fehlt, schon sehr vertraut geworden. es mangelte an politischer debatte im öffentlichen raum, an äußerungen freier meinungen an der universität (ausnahmen bestätigten die regel), an erlaubten demonstrationsrouten in der innenstadt. vielen fehlte nachmittags das wasser oder der strom – nicht wenigen auch das geld, um die rechnungen zu bezahlen. erst einige stunden nach dem grenzübertritt und der ankunft in tbilisi wurde mir bewusst, dass ich in meiner liste der fehlenden fakten etwas vergessen hatte: durch die straßen der hauptstadt laufen und sich nicht sattsehen können an stencils, bunten aufklebern an stromkästen oder laternenmasten, graffiti und gewöhnlichen kritzeleien als partizipativen spuren der bevölkerung im urbanen raum.

sie sind mir (und bestimmt nicht nur mir) abgegangen in baku, wo sich gelegentlich von oben verordnete kunst in den straßen findet – in form anscheinend vielsagender, aber eigentlich beteutungsloser statuen: eine rote figur, deren oberfläche glänzt wie lack, ein gebilde aus metall, das von seiner machart an galerien in westeuropa erinnert … aber was soll es mitteilen? (ausnahmen: ein jugendlicher – oder war es eine erwachsene? – hat sich an einer dieser scheinbar bedeutungsvollen statuen mit edding betätigt: steinerne und ursprünglich leere buchrücken vor der mit nationalflaggen überfrachteten buchhandlung wurden mit titeln oder werknamen versehen: BAKUNIN, KAPITAL … selten personennamen oder ähnliches an einer wand. einmal hat das französische kulturinstitut künstler eingeladen, eine fassade mit graffiti-ähnlichen transparenten zu verschönern. sonst: nichts.) hier in tbilisi: wände voller aushänge. ein gemaltes kleines mädchen, das mit einer pistole aus schwarzer farbe auf einen schneemann zielt. die konturen von lenins schädel. eine homage auf den surrealismus: das gesicht salvador dalís, die dunklen stellen in schablonentechnik mit buchstaben gefüllt. ich kann weder georgisch sprechen noch die schrift lesen, daher erfasse ich die inhalte der meisten texte an den wänden nicht. aber allein, dass jemand riskiert hat, sich erwischen zu lassen … denn wer schreibt schon an wände, wenn exmatrikulation, kündigung, weiße oder schwarze folter drohen?

barcelona, 1978

die kurzgeschichte graffiti von julio cortázar erscheint im kontext einer ausstellung des bildenden künstlers antoni tàpies. schauplatz der story: eine stadt in einer zeitlich und räumlich nicht näher definierten militärdiktatur. das graffito (die bezeichnung reiht es nicht ein in die explizit politische tradition der murales) wird im lauf der erzählhandlung vom spiel zum symbol der kommunikation und des widerstandes. bereits im zweiten satz beginnt eine (noch) nicht zuordenbare ich-stimme, eine geschichte in der zweiten person zu erzählen: „Ich glaube, es hat dir gefallen, als du die Zeichnung neben der deinen sahst.“[7] die komplexe erzählsituation verweist auf die kommunikative praxis von graffiti bzw. kritzelei: ein graffito neben das einer/eines anderen zu setzen stellt einen bezug her und lässt sich zumindest als zeichen von respekt, hier sogar als kommunikation mittels bildersprache verstehen. im gegensatz zu freude und genugtuung (während des zeichnens, beim späteren betrachten der kunstwerke) stehen verzweiflung und aggression gegen sich selbst (angesichts der verhaftung des zweiten ungehorsamen subjekts): „In dieser Nacht brachte dir der Gin keine Linderung und es blieb dir nichts zu tun als in deine Hände zu beißen und die Schachtel mit Farbkreiden zu zertrampeln, ehe du dich in Trunkenheit und Elend verlorst.“[8] die hände und die kreiden: die nötigen werkzeuge, um wandmalereien herzustellen. die saubere, leere wand („nicht einmal eine einzige Blume“[9]) zeugt von der hegemonialmacht der diktatur; die zeichnung, die bis zum nächsten abend bleibt, markiert einen wendepunkt: die ersten unruhen in den vorstädten.

die verfilmung von matthew patrick[10] rückt relativ weit von der vorlage ab, übersetzt die literarische sprache in eine bildliche. wir sehen bereits in der eingangsszene dem ersten politischen graffito (libertad) beim verschwinden zu – soldaten weißen die wand. das du (der mann) wird hier zur eindeutigen hauptperson, die mit einer kreide und einer kohle in der hosentasche durch die nächtliche stadt eilt, um mauern, türen, … mit skizzen zu verzieren. die mit diesen beiden bescheidenen ausdrucksmitteln angefertigten schwarz-weiß-motive werden von ihr (der frau) mit bunten elementen ergänzt. sie zeichnen ornamente, aber auch ästhetische und lächerliche figuren (letztere an einer stelle mit attributen des klerus, des militärs und der oligarchie) und körperliche motive: augen, die für überwachung, für hin- oder wegsehen stehen können. ein mund, der verlocken, aber auch durch lachen seinen spott signalisieren kann … oder gar aufgetan werden, um zu sprechen, zu widersprechen … das nackte gesäß als erotische verheißung und respektlosigkeit gegenüber der herrschenden diktatur zugleich … die short story wie auch der film setzen street art in einen kontext, in dem jedes bild das letzte sein kann. auf mauern gezeichnet wird – bis zum ende.

 

informationen und links 

http://taki183.net/_pdf/taki_183_nytimes.pdf

https://artforum.com/inprintarchive/id=35643

http://www.vanityfair.com/news/1988/11/jean-michel-basquiat

http://www.romanistik.uni-freiburg.de/pusch/zfk/26/05_Berneiser.pdf

https://vimeo.com/28340945

 

 


 

[1]    Völke, Clara: Street, Art, Hype. In: Klitzke, Karin / Schmidt, Christian [Hrsg.]: Street Art. Legenden zur Straße. Berlin: Archiv der Jugendkulturen Verlag 2009, S.18–19.
[2]    Simanowski, Roberto: Interfictions. Vom Schreiben im Netz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. (= edition suhrkamp 2247), S.60.
[3]    ‘Taki 183’ Spawns Pen Pals. In: New York Times. 21.07.1971, S.1. http://taki183.net/_pdf/taki_183_nytimes.pdf
[4]    Ricard, Rene: The Radiant Child. In: ARTFORUM. 12.1981. https://artforum.com/inprintarchive/id=35643
[5]    Haden-Guest, Anthony: Burning Out. In: Vanity Fair. 11.1988. http://www.vanityfair.com/news/1988/11/jean-michel-basquiat
[6]    Emmerling, Leonhard: Basquiat. Köln: Taschen 2003, S.20.
[7]    Cortázar, Julio: Graffiti. Aus dem Spanischen von Keto von Waberer. In: Freibeuter 2 (1979), S.111–114, hier S.111.
[8]    Ebd., S.113.
[9]    Ebd.
[10]  Graffiti (1985). Regie: Matthew Patrick. Drehbuch: Randee Russel, Matthew Patrick. Cast: E.J. Castillo, Ivy Broya u.a. 28 min.
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