Ein (Alpt-)raum für Mutter und Kind

Room
Die erste Ausgabe von Uschis Buchclub: Raum/Room, von Emma Donoghue. Nachdem Hauptdarstellerin Brie Larson den Golden Globe, den SAG Award und schließlich auch den Oscar für diese Rolle bekommen hat (mehr als verdient, wie wir meinen!), und uns Jacob Tremblay als Jack sofort in seinen Bann gezogen hatte, war klar – mit diesem Buch eröffnen wir, wenn auch mit schweren Gemütern, unseren Buchclub.
 Eine Rezension von Alexander Carmele.

Raum transponiert einen realen Alptraum in eine literarische Tour de Force, die ihres Gleichen sucht. Aus der Sicht eines fünfjährigen Jungens (Jack) wird ein grauenerregendes Verbrechen beschrieben, das leider immer wieder stattfindet und vielleicht sogar genau in diesem Moment an einigen Orten in der Welt für Frauen und Kinder eine schreckliche Realität ist: Kidnapping, Freiheitsberaubung, Vergewaltigung, Misshandlung, Folter und sadistische Verhöhnung durch die Täter.

Emma Donoghue zieht die LeserInnen sofort in den Bannkreis mit Hilfe ihrer klaustrophobischen Sprache. Jack quasselt. Jack munkelt, mutmasst und erfreut sich an den wiederkehrenden Details und Ereignissen in seinem winzigen Gartenschuppen, der ausreicht, um ein Hadeslabyrinth trostloser Trauer um ihn und seine Mutter und die anwesenden LeserInnen herum zu erzeugen – ein (Alpt-)raum für sie, insbesondere für die Mutter, die dem kleinen Jack die finstere Realität so schonend wie möglich beizubringen versucht. Sie weiß, im Gegensatz zu Jack, dass es ein Außen gibt. Sie war einst Studentin, bevor sie verschleppt, gequält und ihrer Freiheit beraubt worden ist.

Raum ist sicherlich nicht jedermanns/fraus Sache. Es ist emotionaler Hardcore von den ersten Zeilen an bis zum gekonnten Crescendo der letzten Seiten. Ich hielt es kaum aus. Die fürchterliche Realität der beiden rührte, peinigte, zernagte mich. Hilflos musste ich lesen, konnte nicht helfen, mich nicht für sie einsetzen. Wut und Aggression baute sich gegen den sadistischen Täter auf, Wut und Aggression aber, die kein Ventil fanden in einer Welt, in der Gewaltverbrechen nichts Ungewöhnliches sind.

Ich verstehe Emma Donoghue. Nach ihrem Buch habe ich das Gefühl, selbst zur Feder greifen zu müssen, um den Schmerz rauszulassen, und wachsamer im Alltag werden zu wollen, um Zivilcourage zu zeigen und zu entwickeln. Ein Buch wie Raum enthebt sich aller Kritik. Es ist nicht einfach ein Buch auf irgendeiner Bestenliste – es ist ein Diskussionsbeitrag, indem es es auf eine schmerzhafte Realität hinweist, von der viel zu gerne die Aufmerksamkeit weggeblendet wird, und in dem das Interesse allein den Opfern gilt und ausnahmsweise mal nicht den Tätern. Das Ziel von Mutter und Kind, nach diesem Grauen, ist das selbstbestimmte Wohnen. Der Täter findet keine Erwähnung mehr.

Aus literaturwissenschaftlicher Sicht lässt sich noch hinzufügen, dass Raum eine Art Dilemma kreiert, das nicht fair ist, aber im Stoff begründet liegt. Der kleine Jack erzählt, aber er erzählt auch nicht, das heißt er kann nicht schreiben und er ist, offensichtlich nicht, in der Lage ein kohärentes Bild der Situation zu erzeugen. Es stellt sich daher, naiv und von Anfang an, die Frage, wer da eigentlich spricht (es kann nicht Jack sein, Jack kann nicht schreiben; es ist auch nicht die Mutter, denn sie wird nur von außen beschrieben). Emma Donoghue wählt tatsächlich eine gebrochene auktoriale Erzählebene eines sich seiner selbst nicht-bewussten allwissenden Erzählers – also eigentlich, einen älteren Jack, der auf seine Vergangenheit schaut und über sie souverän verfügt. Nur tritt dieser Jack nicht auf und die Erzählung findet als eine Art Big Brother in einem Container des Grauens statt: Der Erzähler ist eine Kamera, gehalten von einem kommentierenden kleinen Jack, und diese Wahl, den Erzähler nicht zu thematisieren, verwirrt den Leser und lässt ihn verzweifeln. Er hat niemanden, an den er sich wendet, bei dem er sich sicher fühlt. Aber genau das ist eben das Thema des Romans – nur, und hier befindet sich das Dilemma, es gibt keinen Text ohne einen Autor, auch wenn er sich durch seine Ohnmacht verleugnen muss. Diese Konfusion hätte sich nur vermeiden lassen können, wenn ein erinnernder Jack aufgetreten wäre (der aus der Zukunft heraus erzählt), aber das hätte dem Roman, vielleicht, seinen Schmerz genommen. Der Stilbruch ist hier Stilmittel.

Ich habe es nicht genossen, Raum zu lesen. Ich war beeindruckt, aber überfordert. Die Geschichte des kleinen Jack und seiner Mutter raubte mir den Schlaf und zerschmetterte meine Sicherheitsblase im süßen Leben des Elfenbeinturmes. Ich bin aber froh, dass es das Buch gibt, und ich hoffe und wünsche mir, dass es nur eines von vielen weiteren Büchern ist, in denen Opfer und Angehörige, empathische Bürger und Bürgerinnen Anklage erheben, gegen eine Welt, in der noch immer, und leider, Schwache zum Spielball sadistischer Gewalttäter werden.

Raum
Emma Donoghue
Aus dem Amerikanischen von Armin Gontermann
Piper Verlag
bereits erschienen (2012)

 

Der Trailer zur Literaturverfilmung – Room (Regie: Lenny Abrahamson, A24. Im deutschsprachigen Raum erschienen: Mitte März 2016)

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